Ich will Leben! Ja, wirklich!
Ich glaube, ich habe das hier schon öfter geschrieben. Bis gestern dachte ich, man kann sich nur einmal für oder gegen das Leben entscheiden. Gestern saß ich also bei meinem Ergotherapeut und habe mich, und Ihn auch, gefragt, wofür wir das alles noch machen. Wofür ich kämpfen soll und warum ich nicht aufgeben darf. Dass ich mich im Moment, mal wieder, nicht ganz für das Leben entscheiden kann. Und dass es aber von mir verlangt wird. Dass ich mich frage, ob ich meine Ziele jemals erreichen werde und überhaupt kann. Was meine Ziele überhaupt sind und ob es sich wirklich dafür lohnt zu leben. Dass ich die Kontrolle nicht verlieren will, sie aber so oft verliere, und mir einrede, ich hätte gerade deshalb die Kontrolle und kann die ganze Krankheit nicht los lassen, weil ich sonst die Kontrolle verlieren würde. Das ist so ein Quatsch, das wusste ich sofort und das weiß ich schon so lange. Gestern habe ich, abgesehen von dem, was ich eben erzählt habe, kaum geredet. Dafür hat mein Ergotherapeut umso mehr geredet und ich nachhinein hat mich das unglaublich weiter gebracht.
Er fragte, warum wir immer alles kontrollieren wollen und ja nie die Kontrolle verlieren wollen. Kontrollverluste könnten ja auch schön sein, wie ich ihm letztens noch erzählt habe, nach dem ich das erste mal seit Jahren in meinem Lieblingsclub war und meinen damaligen besten Freund nach Jahren wieder getroffen habe. Da war ich sehr betrunken, hatte kaum Kontrolle, ABER es ging mir trotzdem gut! Also fragte er, warum Kontrollverlust denn immer negativ sein muss. Und warum wir nicht einfach leben können, ohne uns zu fragen warum und wofür. Warum wir streng nach Regeln und Zielen leben müssen, die wir uns meistens selbst gesetzt haben.
Er nannte das Beispiel eines Meeresschwammes. Der lebt Jahrtausende und macht immer das selbe. Er nimmt Nährstoffe auf, wandelt sie um, scheidet sie aus, und so weiter. Er macht sich nie Gedanken darum, warum er nicht mehr macht und warum er nur das eine kann, warum er nicht weiter kommt und immer an einer Stelle bleibt.
Warum also können wir nicht auch einfach Leben? Also wirklich Leben. Das machen, wozu wir Spaß haben und das Leben einfach auf uns zu zu lassen. Das kann doch so schön sein! Ohne viele und strenge Regeln, einfach nur da sein und zufrieden mit dem sein, was man hat und was man ist. Ja, warum eigentlich nicht?
Bewusst hat das erst nicht so viel mit mir gemacht. Aber so im Nachhinein sehe ich, dass es mir schon Kraft gegeben hat. Zuvor war ich Lustlos, motivationslos, voller Selbsthass und träge, traurig und antrieblos. Danach, als ich heim kam, habe ich angefangen, den Haushalt zu machen, Telefonate zu erledigen, Briefe zu schreiben, aufzuräumen, wir was zu essen zu machen und ich habe es drin behalten. Ich hatte wohl doch wieder mehr Motivation und Lebenslust!
Und heute, da denke ich viel mehr darüber nach, was er gestern gesagt hat. Warum muss ich mir so hohe Ziele stecken?
Ich werde versuchen, jetzt mehr zu Leben. Ich will Leben.
Und auch dazu sagte er etwas sehr treffendes: Man muss sich im Leben nicht nur einmal für oder gegen das Leben entscheiden – das muss man immer wieder tun! Und ich habe es heute getan und ich werde alles dafür geben!
Ich möchte ein Leben ohne dauernd zum Arzt laufen zu müssen, weil ich mich mal wieder heftig selbst verletzt habe, oder weil mein Magen rebelliert, weil ich zu sehr in der Essstörung stecke. Ich möchte nicht laufend zur Blutuntersuchung müssen, weil ich durch die ES und SV irgendwelche Mängel habe und ich möchte nicht den Rest meines Lebens so viele Medikamente nehmen müssen. Auch möchte ich nicht den Rest meines Lebens mehr Zeit in Psychiatrien als zu Hause verbringen! Ich möchte irgendwann ein eigenständiges Leben führen, möchte aus der Einrichtung ausziehen, arbeiten oder studieren gehen, vielleicht irgendwann wieder eine Beziehung haben. Ich möchte lernen, mich selbst zu mögen oder wenigstens zu akzeptieren und einen vernünftigen Umgang mit Essen finden. Ich möchte nicht immer abgestempelt werden als die, die psychisch Krank ist und eh nichts auf die Reihe bekommt. Ich möchte was aus meinem Leben machen, ich möchte mein Fachabi nutzen, meine Intelligenz nutzen, mich fordern und fördern.
Ich mache und plane wieder Dinge, die ich früher so gerne gemacht habe. Konzerte, Festivals, Feiern.. höre wieder die Musik, die ich damals gehört habe, und nicht nur aussschließlich nachdenkliches Zeug. Ich baue alte Freundschaften wieder auf, versuche neue zu schließen, die aktuellen aufrecht zu erhalten. Ich möchte endlich wieder LEBEN! Ich stelle mich meinen Ängsten und gebe alles dafür! Trotz der vielen Rückschläge in den letzen Monaten will ich leben! Oder vielleicht gerade deswegen. Auf jeden Fall ist aufgeben das LETZTE, was ich tun werde und will. Ich werde KÄMPFEN!
Jetzt sitze ich hier, bin leider hellwach, weil ich angespannt bin, aber positiv angespannt. Eigentlich wollte ich diesen Text morgen für euch schreiben, aber ich finde gerade irgendwie keine Ruhe und schreibe es deswegen jetzt. Um vielleicht etwas zur Ruhe zu kommen.